Ist Zen in philosophischer Weise beschreib- und betrachtbar?
Wenn wir einen vom Zen überzeugten Menschen fragen, ob Zen mit philosophischen Mitteln gesehen und beschrieben werden kann, wird er nur lachend den Kopf schütteln, und sollte er etwas dazu sagen wollen, wird „undenkbar, unmöglich, sinnlos, verkopft…“ im Text sicher eine Rolle spielen. Warum ist das so, und warum lehnt Zen als Lehre und seine Vertreter als Menschen eine philosophische Betrachtungsweise als Gerede vollkommen ab. Es scheint auf den ersten Blick so zu sein, Zen als Philosophie gesehen würde, wie im Titelbild auch schon mal frevelhaft versucht, den Geist des ICH in den Zen Kreis einfügen.
Zen als spirituelle Lehre, als Welt- oder Menschenbild und vielleicht auch als Religion erscheint vielen durchaus denkbar. Undenkbar erscheint die Betrachtung als Philosophie, denn gerade als unphilosophisch, als sogar gegen als die Philosophie gerichtet wurde Zen gesetzt. Zen richtete sich explizit gegen die Tendenz in der frühen buddhistischen Tradition, exakte philosophische Theorien und Betrachtungsweisen zu konstruieren. So entstanden in dieser Zeit unzählige Weisen, den Buddhismus und seine Intension zu interpretieren. Diese standen sich dann argumentativ und in der Diskussion ziemlich feindselig gegenüber. Was folgte, war bei den Anhängern mehr mit Verwirrung als mit Erkenntnis zu beschreiben. Weiterhin flossen immer mehr traditionelle philosophische Strömungen in den Buddhismus ein und schufen so auch die vielen noch heute vorhandenen Religionen wie Bön, Shinto, Theravada, und andere. Sie verwässerten den Zen-Vordenkern zufolge somit die ursprüngliche Intension des Buddha, die Welt dauerhaft und nachhaltig vom Leiden zu befreien.
Zen setzt daher ausschließlich auf die praktizierbare Übung, die vollkommen als Weg (Do) gesehen werden soll und die gerade nicht ein Ziel vor Augen hat, das zu erreichen sei. Zen bietet keine Lehre, kein Geheimnis und keinen Trost an, sondern verweist auf ein einfaches Dasein in der Gegenwart („jetzt und hier“), in der der reflektierende und diskriminierende Geist (Ich) vollkommen verschwindet. Die Praxis zur Umsetzung durch Übung ist Zazen, sitzen in Kraft, Wachheit und Stille, sowie auf einer Konzentration auf den lebenserhaltenden Alltag, auf die Tätigkeiten also, die gerade jetzt anstehen und wichtig sind.
Trotzdem wird, wer Zen-Veranstaltungen und Zen-Sesshins besucht, mit einer Vielzahl von Ritualen und Verhaltensweisen konfrontiert, die eigentlich nur religiösen Ursprungs sein können, weil sie eben nicht auf der Gegenwart, sondern auf eine entfernte Vergangenheit verweisen und Lehren, Glaubensinhalten, Geschichten, oder anders ausgedrückt Erzählungen (Narrative)beinhalten. Rezitationen, Zeremonien, Künste (Bogenschießen, Kampfsport, Tee, Ikebana, Yoga) und fest eingeübte Verhaltensweisen zum Essen, Gehen oderanderen Alltagshandlungen dienen aber nicht zwangsläufig der Anbetung oder Huldigung eines Meisters, Gottes oder einer Lehre, sondern sollen auch dem Tag Struktur geben, das Freundschaftsgefühl und die Kraft einer Gemeinschaft entfachen und/oder die Sicherheit und Geborgenheit in der Gruppe steigern, die gerade hier und jetzt zusammenarbeitet und -steht. Weiterhin dienen diese Formen der Organisation der Gruppe, die neben den gesetzten Übungen ja auch einen Alltag zu meistern hat, der auch verschiedene Arbeiten und Aktivitäten erfordert. So muss Essen zubereitet, müssen Getränke bereitgestellt, Heizungen befeuert und Hygienemaßnahmen durchgeführt werden. Auch werden Seminare und Klosterveranstaltungen einer Planung und Leitung bedürfen, in denen Form eine hilfreiche Rolle spielen kann.
Soweit vielleicht erst einmal eine kurze Beschreibung der Zen-Wirklichkeit, wie sie ein interessierter Laie auf Seminaren und in Klöstern vorfinden wird. Kommen wir aber wieder zurück zur Ausgangsfrage, die sich jetzt in zwei Formen darstellt:
- Ist Zen als Philosophie denkbar?
- Kann Zen mit philosophischen Mitteln
beschrieben, verstanden und erkundet werden?
Dazu sollten wir uns zunächst einmal die Grundlage einer Philosophie ins Bewusstsein rufen, wie sie allgemein verstanden wird. Unsere westliche Philosophie beruht in ihren Inhalten in weiten Teilen auf einer nachträglichen Reflektion. Dinge sind geschehen, und um die Ursache dafür zu finden, werden Theorien und Vermutungen angestellt, auf deren Basis dann die Geschehnisse, die zu beleuchten gewünscht wird, hinterfragt werden. Je größer jetzt die Widerspruchsfreiheit der Theorie mit dem wirklichen Geschehen gezeichnet werden kann, desto wahrscheinlicher wird die Anwendbarkeit der Theorie auf ähnlich gelagerte Fälle in Zukunft und Vergangenheit. Weiterhin versucht die Philosophie auch heute noch, nach der Grundlage aller Erscheinungen zu suchen, also eine letztgültige Substanz, ein letztgültiges Prinzip, eine letzte Ursache zu finden, auf der sich ein Theorie- oder Gedankengebäude bauen lässt, das dann imstande wäre, die Welt und alle ihre Erscheinungen zu erklären. Aristoteles nennt dieses Substantia.
Anders als in der westlichen Philosophie lehnen sowohl der Buddhismus als auch Zen das Vorhandensein dieser Ursubstanz, benannt oder beschrieben als Gott, Wasser, Feuer, König oder nur ein Guru, vollkommen ab und setzt als Grundprinzip zum Gedankenaufbau lediglich die Relatio. Hier wird die Rückführung auf einen Grund vollkommen abgelehnt und alles Gesehene und Geschehene als in Relation zu sehen betrachtet. Ein schönes Beispiel für eine ähnliche Weise des Erlebens geschieht jedem denkenden Wesen dieser Welt, das irgendwann in seiner Umgebung erwacht und diese zunächst einmal als gegeben betrachten muss. Niemand beginnt eine beginnende Erkundung mit dem Hinterfragen, sondern mit dem Wahrnehmen dessen, was ist oder als solches erscheint. Auch der Mensch samt seiner Kultur ist hier keine Ausnahme. Zen stellt sich die letzte Ursache als ein leeres unbegrenztes Feld vor, in dem Erscheinungen sich einfach nur manifestieren und ebenso wieder vergehen. Nichts ist ewig, heilig oder unbedingt. Die Wirklichkeit ist in Kurzform gesprochen daher in ihrer Grundlage leer und gilt als nicht fest, nicht ewig, also als Nichts. Da es Nichts ist, kann es im Grunde auch keinen Namen tragen, das wir es aber trotzdem mit Namen versehen wie Nichts, Nirwana, Leere, Liebe oder Selbst ist der Unfähigkeit der Sprachen zu verdanken, ohne Unterscheidungen auch keine Aussagen machen zu können. Auch wenn das Nichts also einen Namen hat, hat dieses trotzdem keine Bedeutung und ist nicht als fest, greifbar oder als Ding zu betrachten. Somit hat die Relatio des Zen keine Substanz, nach der gesucht, gestrebt und geforscht werden kann, aber diese Sichtweise beruht durchaus auf einem Prinzip, das, aber mit bedeutsamen Einschränkungen des Absolutheitsanspruchs in den Definitionen, mit Sprache beschrieben werden kann.
Ich persönlich betrachte die umschreibenden Formen der östlichen Philosophien, die meist keine statische Grundlage haben, trotzdem als Philosophie. Ihre Basis sind Ansichten, die zwar nur durch perspektivische Beschreibungen umrissen werden können, aber die in ihrer Fülle einem intelligenten Menschen ein klares Bild abringen. Intuition nennt man diese Fähigkeit, aus Umschreibungen und Bildern, aus einem erkannten Teil auf das Ganze zu schließen. Wenn wir die Fähigkeit zur Intuition dem Menschen zugestehen, dann sind auch Prinzipien auf nicht-substanzieller Grundlage als Basis für einen philosophischen Aufbau geeignet, und somit kann Zen auch philosophisch beschrieben und betrachtet werden.
Mit philosophischen Methoden können meiner Ansicht nach auch alle Aussagen hinterfragt werden, die von Autoritäten des Zen vertreten werden. Das dabei die historischen Aussagen aus vergangen Jahrhunderten nicht die gleiche Form haben können wie in der heutigen Zeit üblich, ist der Entwicklung und dem Zustand der Sprachen geschuldet, die ja mit der zunehmenden Industrialisierung der Lebensbereiche immer mehr Wortschöpfungen geschaffen haben, mit denen komplexe und der Logik schwer zugängliche Sichtweisen sich in wenigen Worten beschreiben lassen. Zum Beispiel ersetzt heute die Aussage „etwas verhalte sich wie Polaritäten…“ langatmige Aufzählungen, werden Metaphern wie „auf den Ochsen nach Hause reiten…“, [1. was sich auf die Beschreibung des Erwachens in den Ochsenbilder bezieht] sowie Aphorismen, [2. also besondere Aussagen von Autoritäten zum Beispiel, die jeder Kulturangehörige gut kennt] heute nicht so oft Verwendung finden müssen, weil zunehmend andere, mehr wissenschaftliche begründete Begriffe möglich wurden. Betrachtet man in diesem Sinne die Worte Unschärferelation, Relativitätstheorie, Entscheidungsvierkant, Kategorischer Imperativ, Ockhams Rasiermesser oder Ontologie, so bezeichnen diese eine Sicht-, Verstehens- oder Vorgehensweise, die in wenigen Sätzen, ja nicht einmal in wenigen Studienstunden voll verstanden werden können. Trotzdem weiß nahezu jeder Interessierte, was damit letztlich gemeint ist und ausgesagt werden soll. Aussagen in Sprachen müssen daher immer sowohl im Kontext als auch in dem historischen Entwicklungsstand der Kultur gesehen werden, aus dem gerade mal zitiert wird. Damit wird jeder interessierte Leserin seiner philosophischen Arbeit mit der Aufgabe konfrontiert, nicht nur die Schriften des Zen, sondern auch den kulturellen Background seines Studienmaterials sich zu erarbeiten. Das macht die philosophische Arbeit zwar umfangreich und langwierig, ist aber nicht unmöglich.
Die anfänglichen Fragen „Ist Zen in philosophischer Weise beschreibbar?“ und „Ist Zen eine Philosophie?“ ist somit aus meiner Sicht eindeutig mit „Ja!“ zu beantworten, wenn gleich der dafür benötigte Aufwand erheblich sein dürfte und der Arbeitsplatz dazu nicht ausschließlich am Schreibtisch, sondern in erheblichem Maße auf der Meditationsmatte sein muss. Zen in diesem Sinne ist für mich mehr Selbsterfahrungsphilosophie und steht damit in vielerlei Hinsicht jenseits aktuell verbreiteten, akademischen Gewohnheiten. Die Grundlage jeder Betrachtung des Zen ist für mich die Fähigkeit zur Meditation, also der reinen nicht-kommentierenden Beobachtung seiner selbst und Umwelt im stillen und kraftvollen Sitzen (Zazen). Ohne sie kann auch die philosophische Arbeit mit Zen-Literatur und deren Interpretation für die heutige Zeit letztlich nicht gelingen.
Geeignete Literatur zum Thema:
- Byung-Chul Han – Philosophie des Zen-Buddhismus
- Shizuteru Ueda – Wer und was bin ich?
- Toshihiko Izutsu – Philosophie des Zen-Buddhismus
- Shinichi Hisamatsu – Die fünf Stände
- Shinichi Hisamatsu – Die Fülle des Nichts
- Shinichi Hisamatsu – Philosophie des Erwachens