Die lebenswerte Angst…

Seit immer wieder neue Begriffe auftauchen, die unser Leben und die Art und Weise unserer Zivilisation zu beschreiben suchen kommt mir mehr und mehr die Frage in den Sinn, ob ich überhaupt noch weiß, nach welchen Kriterien wir eigentlich unsere Welt gestalten und was noch von Belang dafür sein könnte.



Unser Wirtschaftssystem heißt heute Neo-Liberalismus, junge Leute leben einen Neo-Eskapismus, unser industrieller Materialismus kommt wegen strukturellen Krisen mehr und mehr ins Wanken und mehr und mehr Leute entschwinden in Scheinrealitäten, die vor einer Maschinerie aus Konzerninteressen und Werbemaßnahmen zunehmend ihr Gesicht verlieren und zu konsumierenden Zombies degenerieren. So etwa lauten verschiedenste Beschreibungen der Realität heute, also des Lebens in unseren westlichen Gesellschaften. Diese Form, die uns alternativlos erscheint, tragen wir missionierend in die Welt hinaus und zerstören so aus den Interessen einiger weniger Nimmersattlinge unseren Planeten. Das ist die kritische Beschreibung der linken Intellektuellen für unser System. Sie versuchen damit, in ihrem Sinne die Allgemeinheit aufzuwecken und argumentieren, es gäbe doch so viel Besseres, Sinnvolleres und Nachhaltigeres zu tun, statt den Blick auf Handy gerichtet nach neuen Schnäppchen, weiteren Ablenkungen und neuen Selbstoptimierungen zu schauen.

Wenn man dann allerdings die Phantasie mal laufen lässt und schaut, wohin diese Sichtweise hinführt, wird dem neutralen Beobachter schnell die Frage in den Sinn kommen, ob diese neue Welt eigentlich besser und lebenswerter sein kann als die, die wir verteufelnd verlassen müssten. Es gibt dann ja immer noch sehr viel zu tun, nur sind die Aufgaben dann andere. Die neue Welt wird weiterhin auf den digitalen Medien aufgebaut sein, was dann immer noch den Blick aufs Handy gerichtet ließe, nur sind dort nicht überwiegend Selfies und Konsum zu sehen, sondern andere Form der Optimierungssucht, die sich halt nur mehr an „fair trade“, gesund und „bio“ orientieren. Zeit haben, in Ruhe seine Arbeit tun und ein ausgewogenes lebendiges Leben führen würde dann wohl ebenfalls nicht möglich sein.

Beide Varianten, die billige neoliberale Welt des Massenkonsums sowie die teure Welt der Nachhaltigkeit verschlingen ungeheuer große Teile der planetarischen Ressourcen und sind damit für eine Welt der Gleichheit und Brüderlichkeit für 8 Mrd. Menschen nicht wirklich machbar. Vielmehr werden wir in den wohlhabenden Regionen der Erde irgendwann begreifen müssen, dass wir zurückstecken müssen, dass wir unsere Komfortzone verlassen müssen, um allen Menschen und vielleicht auch noch den großen wilden Tieren ein mensch- und artgerechtes Leben zu ermöglichen. Die Berechnungen dazu liegen doch bereits auf dem Tisch, was noch fehlt ist die Institution, die eine Umsetzung herbeiführt oder sogar erzwingt. Mir persönlich wäre es am liebsten, wenn wir diese Institution selbst wären und durch Einsicht und Vernunft zu einer für alles Leben sinnvollen Lösung kommen würden. Die Frage, die sich darauf aber stellt, heißt doch, wie ein sinnvolles, lebenswertes Leben aussehen könne, wie wir dann unser Leben ändern müssen, und welche Werte dazu zu vermitteln sind. Kurz formuliert: Was ist eigentlich Leben? Und was ist meine Aufgabe darin? Und wozu überhaupt das Ganze? Sollten wir diese Fragen nicht erst einmal ansatzweise beantworten, bevor wir uns auf einen wie immer gearteten Weg machen.



Der Sinn des Lebens erschließt sich uns nicht. Wir leben. Wir leben sogar überwiegend gerne. Anders ist nicht zu erklären, warum nahezu alle Menschen sehr an ihrem Leben hängen und große Anstrengungen unternehmen, es möglichst lange fortzusetzen. Während viele Menschen ihren Tag damit verbringen, heute etwas zu essen zur Verfügung zu haben, verbringen andere ihre Zeit damit, Reichtümer anzuhäufen in einer Menge, die sie selbst gar nicht aufbrauchen können, selbst wenn sie sich sehr viel Mühe geben würden. Und zwischen diesen Extremen (schwarz – weiß) gibt es jede mögliche Stufe in grau. Aber der Reiche hortet ja nicht nur aus Angst ums tägliche Essen, das würde wohl jeder verstehen, sondern um sich aus der Menge der Lebewesen herauszuheben, um… ja, warum eigentlich? Warum ist das Rampenlicht eigentlich attraktiver als die heimeliche Küche, warum schmeckt Kaviar eigentlich besser als Kartoffelsuppe, warum wird schlank und jung mit hübsch und gesund und dick und alt als hässlich und/oder krank angesehen? Ist das glatte unverbrauchte Gesicht wirklich schöner als das vom Leben gezeichnete Faltige. Und warum ist großer Erfolg, also der scheinbar betörende Beifall anderer, besser als das Leben in bescheidenem und wenig beachteten Rahmen?

Soweit mir bekannt ist der Mensch das einzige Lebewesen auf dieser Erde, das im Übermaß hortet. Außer dem Anlegen von Vorräten für den Winter und wenige als Werkzeug taugliche Stücke sammelt kein mir bekanntes Tier irgendetwas. Sie alle kommen in der Regel mit dem aus, was das natürliche Umfeld ihnen bietet, mehr noch, sie bringen mit Lebewesen anderer Art eine Art Gleichgewichtszustand hervor, die alle Arten begünstigt und fördert. Natürlich gibt es das Revier, dass manches Tier gegenüber Artgenossen verteidigt, es gibt Rudel- und Gruppenverhalten, was nicht immer einfach zu verstehen und noch weniger einfach zu leben sein würde, aber das hält sich doch noch in überschaubaren Grenzen auf. Also wäre schon mal doch die Frage zu klären, was die Menschen veranlasst, sich derart ängstlich und überbordend mit Unmengen Lebensraum und anderen Ressourcen zu versorgen und dabei auf die bekannte rücksichtslose Art vorzugehen, die, seien wir ehrlich, irgendwann auch der eigenen Art zum Verhängnis zu werden droht.

Nehmen wir einmal an, dass die Angst davor, das Leben in der gewünschten Form nicht meistern zu können, die treibende Kraft ist für das Horten, für viele Verhaltensformen innerhalb der eigenen Art als auch der Lebenswelt als Ganzes gegenüber, und das diese Angst eine einzigartige Erscheinung ist, die nur dem Menschen eigen ist. Wodurch also wird diese Angst hervorgerufen? Worauf gründet sich diese Angst? Und natürlich: Wie können wir diese Angst ausräumen, beseitigen und Frieden finden? Nehmen wir als Beispiel den Hunger. Ein Löwe jagt, wenn er Hunger verspürt, frisst und geht friedlich seiner Wege, solange die Sättigung anhält. Selbst ein Zebra hat vor einem satten Löwen keine Angst. Wir kennen das Bild: Schlafende Löwen in der Nähe einer Zebraherde, das Raubtier sozusagen von Futter umgeben. Könnte ein Mensch ebenso handeln? Was den Menschen von den Löwen unterscheidet ist die Fähigkeit, aus der Erinnerung heraus Strategien abzuleiten, die den Hunger von morgen schon heute zu vermeiden sucht. Es ist die Angst, erneut Hunger erleben zu müssen, die Menschen schon heute handeln lässt für morgen, und übermorgen und sogar für schlechte Zeiten in weiter Ferne, die vielleicht nie erscheinen werden oder sich sogar ganz anders ausdrücken können.



Der moderne Mensch entwirft daher Systeme ungeheuren Ausmaßes, die schützen sollen vor allerlei Gefahren, Sorgen, Mangel und anderen Störungen, die als unangenehm und belastend empfunden werden. Das geht soweit, das Angst heute als ur-menschliches Gefühl beschrieben und angesehen (Apotheken Rundschau), und dass das Fehlen von Angst sogar schon als pathologisch, also krank angesehen wird. Wir Menschen haben somit diese Angst als Grundform unseres Seins akzeptiert und leben darin gezwungenermaßen wie ein Fisch im Wasser? Ist in Angst zu Leben aber empfehlenswert? Können Menschen überhaupt ohne Angst leben? Ist Angst wichtig, notwendig, unumgänglich? Das sind unangenehme Fragen.

Im Buddhismus zum Beispiel, für mich eine weitgehend friedvolle Religion mit friedvollen Anhängern, werden „Gier, Hass und Verblendung“ als die drei geistigen Gifte bezeichnet, auf denen unsere Leiden sich letztlich aufbauen. Wenn wir uns in den nächsten Zeilen die Erläuterungen [1. Texte der Pagode Path Hue, Frankfurt; http://www.phathue.de/allgemeines/drei_gifte_tts/] zu diesen Giften ansehen, werden wir erkennen können, das alle drei, jedes auf eine ganz bestimmten Art und Weise auch/und/oder auf Angst aufbauen:

Gier: Mit Hilfe der Gier versuchen wir einen inneren Mangel an Sicherheit durch das Greifen nach Objekten im Außen zu kompensieren – wir halten uns an ihnen fest, sie geben uns Halt und füllen die innere Leere. Der Schwerpunkt der Kompensation liegt häufig auf der materiellen Ebene in Form der Anhäufung von Besitz oder übermäßigem Gebrauch von Genuss- und Suchtmitteln. Er kann sich aber auch auf der geistigen Ebene, beispielsweise als Gier nach Anerkennung oder Wissen, manifestieren.

Hass: Destruktive Emotionen wie Unzufriedenheit, Hass und Wut entstehen, weil man etwas, was man sich gewünscht hat, nicht bekommen hat. In den meisten Fällen ist die Ursache fehlende Liebe. Wenn wir in unserer Kindheit keine Liebe erfahren konnten, wachsen in uns Hass und andere negative Emotionen, wie Neid auf diejenigen, die bekommen, was uns vorenthalten wurde. Wir entwickeln eine andauernde Unzufriedenheit und können unser Leben nicht mehr unvoreingenommen genießen.

Verblendung: Die Unwissenheit wird als Grundlage für die Entstehung aller anderen „Übel” gesehen. Nur im „verblendeten Geisteszustand” verbinden wir uns mit Gier und Hass und nähren sie. Ein klarer Geist erkennt die destruktiven geistigen Faktoren, nimmt sie wahr, aber „lässt sie dann sitzen”, d.h. man identifiziert sich nicht mit ihnen und springt nicht hinein.

Gier und Hass haben ganz sicher etwas mit Angst zu tun. Sei es die Angst, morgen nicht genug zum Leben zu haben, sei es, weil man anderen Dinge und Wissen nicht gönnt aus der Angst heraus, den Anschluss verlieren zu können, sei es, weil man an der Vergangenheit haftet und erlittenes Leid auch Generationen übergreifend nicht vergeben kann. Anders sieht es mit der Verblendung aus. Hier wird Unwissenheit als Ursache genannt. Wissen aber muss immer erst erworben oder vermittelt werden. Erst wenn Wissen vorhanden ist, kann es „sitzen gelassen“ werden. Erst wenn die geistigen Faktoren erkannt wurden, können sie beachtet werden. Erst wenn die Gefahr erkannt wurde, springt man nicht mehr in sie hinein. Mit seinen geistigen Faktoren identifiziert zu sein, ist heute aber der Normalzustand. Das zu hinterfragen oder sogar schon verlieren zu können bedeutet fast automatisch in Angst zu geraten. Diese dann noch wie von außen betrachten zu können, was wie oft beschrieben mit Arbeit und Hin- bzw. Aufgeben verbunden ist, wird ebenfalls meist von Angst begleitet, sei es die Angst, zu viel aufgeben zu müssen, sei es, an der erforderlichen Hingabe zu scheitern. Hin- und Aufgabe sind allerdings bereits die Mittel zur Überwindung der Angst. Sie richtig einzusetzen, muss gelernt werden. Das wird heute nicht (mehr) automatisch mit in die Wiege gelegt.



Natürlich ist die Frage erlaubt, ob ein Buddhismus von vor 2500 Jahren überhaupt noch mit unseren Gesellschaftssystemen ist Beziehung stehen kann, da ja zu seiner Zeit sowohl eine andere Bewusstseinsstufe als auch andere materielle Voraussetzungen die vorherrschenden Strukturen bildeten. Industrie- sind mit Agrargesellschaften nicht gut vergleichbar. Die begrenzten Weltsichten früher lebenden Menschengruppen können auch nicht mit der heutigen Zeit verglichen werden, wenn wir die jeweiligen Radien des möglichen Daten- und Wissensaustauschs der Zeiten zugrundelegen. Ich zum Beispiel weiß von Buddhismus und Hinduismus deutlich mehr als von meiner Kulturreligion des Christentums. Und ich habe mich diesen Religionsformen zugewandt, weil ich Angst habe vor dem Christentum aufgrund seiner blutigen Historie. Das hat auch etwas mit Interessen und Gewohnheiten zu tun. Beide sind geistige Faktoren, die wie oben ja schon zu lesen ein Leben bestimmen.

Angst ist für mich heute der alles entscheidende Faktor, den es zu betrachten gilt, wenn wir spirituelle Fragen besprechen. Wir haben gesehen, das die vom Buddhismus erkannte Gifte alle etwas mit Angst zu tun haben. Auch anderen Religionen benennen Gifte, beschreiben sie und legen sie in Schriften als Ursachen aus, die dann zu vermeiden oder sogar verboten sind. Wie auch immer. Aber bei allen ist Angst ein Element für deren unbehindertes Fortbestehen. Angst ist daher für mich das grundlegende Gift der heutigen Zeit. Keine Angst mehr zu haben ist aber nicht zu verwechseln mit Wagemut oder Tollkühnheit. Wer zu viel wagt, verliert auch gerne mal alles bis zum Leben hinauf und das Wort „tollkühn“ spricht wohl für sich.

Was aber können wir gegen Angst, unsere ganz persönliche Angst eigentlich tun? Vor was habe ich Angst? Das ist eine der schwersten Fragen überhaupt, auch, weil sie so einfach zu beantworten ist. Denn, wenn du dir diese Frage stellst, sie ganz ehrlich und unbedarft in den Raum stellst, ist die Antwort schon unterwegs zu dir. Denn das Erkennen der Angst ist bereits der erste Schritt zu deren Lösung. Erkenne dich selbst. So würde ich den nächsten Schritt beschreiben. „Wer bin ich?“ ist die Frage dazu. Bei weiteren Schritten und deren Benennung muss ich aber schon zur Spekulation greifen. Aber ich denke mal, irgendwann wird es keine Hindernisse aus Angst gebaut mehr geben und ich werde mich wohl dann an einem Abgrund stehen sehen. Dann verbleibt wohl nur noch zu springen. Aber, wie gesagt, das ist Spekulation.

Mein Mantra heißt „weiter“! Und das genügt mir fürs Erste. Mit dem Springen-Müssen beschäftige ich mich dann, wenn ich am Abgrund stehe. Alles andere wäre tollkühn und wagemutig.