Wenn das Leben seinen geregelten Gang geht…

Wenn alle Stricke reißen, wenn alle Lehrbücher keinen Rat mehr geben können gibt es doch immer noch eine Institution, die uns Lebenshilfe und Orientierung geben kann: Die Sprichwörter der eigenen Muttersprache.

Wenn das Leben seinen Gang geht, dann heißt das doch so in etwa folgendes: Das Leben findet in einem Gebäude statt, wo viele Parzellen nebeneinandergestellt und durch einen Gang verbunden sind. Das wandert das Leben durch diesen Gang, besucht mal die eine Zelle, dann eine andere und so geht es hin und her und folgt immerzu den Weg, die das Gebäude und sein Aufbau vorgeben. Solche Gebäude kennen wir. Krankenhäuser sind dafür ein gutes Beispiel, Behördengebäude ebenfalls und auch das eigene Lebensgefüge scheint in immerzu geregelten Bahnen, Gängen zu verlaufen, nur sind diese nicht in einem Gebäude, sondern in parzellierte Lebensbereiche unterteilt. Wir bewegen uns in abgezirkelten kleinen Arbeits-, Familien- und Freizeitwelten ohne Bezug zum Großen und Ganzen. Der jährliche Urlaub vielleicht, eine Reise in fremden Regionen oder andere, nicht alltägliche Beschäftigungen bietet zwar einen kleinen Ausblick auf das vorhandene Mehr, der aber schon nach wenigen Tagen in die Routine des geregelten Alltags zurückfällt.

Das ein Leben so gestaltet sein kann und wahrscheinlich auch muss wussten schon die alten Griechen. Platon zum Beispiel erzählt ein solches in seinem Höhlengleichnis, nur sah er das Eingespielte nicht als unveränderlich an, sondern wies als weiser Lehrer auf das Vorhandenseins eines Auswegs hin. Auch vergaß er nicht zu erwähnen, wie schwer dieser Ausgang zu beschreiten ist und zeigte deutlich und klar, das ein Zurück-Wollen einerseits zwar möglich erscheint, das jedoch die Weitergabe des ermittelten Weges bei zurückgebliebenen Mitbewohnern des Gebäudes meist auf großen Unwillen stößt. Der so Befreite hat jetzt nach Platon ein Problem mehr: Einerseits muss er zurückkehren, um sein Lebensgefüge als soziales Wesen zu erhalten, andererseits wird sein Zurückkehren von großer Unzufriedenheit begleitet sein, weil seine Umwelt nicht mitzieht. Die Alternativen sind dann ein Leben der Gefangenschaft des Alltags oder ein Leben in Freiheit, aber einsam und allein.

In den Zeiten eines Platon und weiter bis ins 20. JH waren die Möglichkeiten, Gleichgesinnte zu finden, mit ihnen Zeit zu verbringen und Austausch zu pflegen, sehr begrenzt. Briefe brauchten mehrere Tage, oftmals sogar Wochen, bis sie zugestellt werden konnten. Daher versammelten sich Gleichgesinnte oftmals in Gemeinschaften, Klöstern oder Schulen, um gemeinsam auf Zeit oder oftmals auch auf Dauer ein anderes, freieres Leben zu führen. Heute aber, seit den Errungenschaften des digitalen Netzes, ist Austausch und gemeinsames Leben und Wirken vielseitiger geworden. Man muss heute nicht mehr nur zusammen kommen, um Gemeinsamkeiten zu pflegen, sondern ist, wenn gewünscht, ortsungebunden dauerhaft vernetzt und somit nie allein. Allerdings gilt das nicht nur für die kleine Gruppe der Gleichgesinnten, sondern für alle Menschen weltweit. Das ermöglicht einerseits ein weiteres Spektrum, trägt andererseits aber auch, wie überall zu beobachten, ein riesiges Gefahrenpotential im Gepäck. Denn der Mensch in seiner kultivierten Form braucht Orientierung, braucht mit anderen Worten seine Gänge, in die er kommen muss, um sein Leben zu führen, sieht aber auch tagein tagaus die anderen, vielfältigen Möglichkeiten direkt vor seinen Augen, die ein Ausbrechen, Aussteigen in ein anderes Gefüge ermöglichen.

Nun zeigt die Erfahrung, das jedes Neue, Interessante und Herbeigesehnte nur eine kurze Zeitspanne lang die große Freiheit darstellt. Man stelle sich vor, wochen-, ja monatelang nur Leibgerichte in traumhafter Kulisse zusammen mit Gleichgesinnten, viel Zeit für seine favorisierte Freizeitgestaltung unter optimalen Bedingungen, nur freudvolle und liebenswerte Menschen um sich herum, die keinerlei Probleme haben und sich super wohl fühlen. Jeder Wunsch wird erfüllt. Wie lange wird das ein Mensch wohl aushalten? Ein Paradies auf Erden. Sind wir Menschen nicht schon einmal, zumindest im christlichen Kontext, aus einer solchen Welt geflohen? Hat uns weiterhin die Historie nicht gelehrt, das alle Paradiese irgendwann zerbrochen sind? Und warum, die Frage stellt sich jetzt, streben wir dann immer noch das Erreichen einer paradiesischen Welt an?

Um diese Frage zu beantworten braucht es auf den ersten Blick eigentlich nicht viel. Auf einen zweiten Blick reagierend aber stellen sich hier immer neue Fragen. Nehmen wir ein Beispiel: Ich möchte mit einer Frau, nennen wir sie M, immerzu zusammen sein. Das würde voraussetzen, das M das auch so sieht und immerzu mit mir zusammen sein will. Somit erfüllt sich der Wunsch nur, wenn zwei Voraussetzungen dauerhaft erfüllt sind. Da wir aber, und auch das besagt ein Sprichwort 1, nichts auf dieser Welt von Dauer sein kann, wird die Sache schon dann problematisch, wenn eine dieser zwei Säulen sich verändert, sich wandelt. So wie bei diesem Beispiel setzt auch jeder andere Wunsch zur Verwirklichung Setzungen voraus, die beständig sind. Beständigkeit aber gibt es nicht, oder?

  1. Das Beständigste auf dieser Welt ist der Wandel; also die Erkenntnis, das nichts beständig ist.
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