Meditation über „nichts“, eine Momentaufnahme

Eine ähnliche Rolle spielen in meiner Vorstellungen Begriffe wie Seele und Atman. Beide werden dazu verwendet, das Weiterleben oder Wiedergeboren-Werden nach dem biologischen Tod zu beschreiben, indem diese sozusagen in die nächste Stufe oder Leben hinübergehen (Transzendenz). Somit wird in meiner Anschauung der Fokus des Lebens darauf gerichtet, die Vorsorge über Seele und Atman für ein Leben nach dem Tode zu priorisieren. Wohin das geführt hat zum Beispiel im christlich geprägten europäischen Mittelalter, sollte eigentlich wohl bekannt sein. Die Seelen wurden für das Paradies gerettet, Körper und Geist aber wurden getötet und verbrannt. Nun sollte eine meditative Praxis nicht in diesem Sinne gedacht und praktiziert werden. Es geht in der Meditation darum, dem Leiden, den Verstrickungen und Missverständnissen dieses Lebens hier und jetzt zu entkommen und ein Leben in der Nähe von Wahrheit, Wirklichkeit und Freiheit zu erreichen.

Somit verbleibt für mich als Basisgedanken einer Weltsicht nur der Begriff des Immanenten, den ich einer Suche nach Erklärungen oder Erfahrungen einer wie immer objektlosen Meditationspraxis zugrunde legen kann. Alles, was ich erfahren kann, mir erarbeiten kann, mir begegnen kann muss daher bereits im menschlich zugänglichen Raum enthalten sein. Es gibt kein Hinüber-Fahren, Hinüber-Gleiten, Ein-Gehen, Übersteigen oder dergleichen, sondern nur ein Erkennen, Erfahren und Betrachten einer Wirklichkeit, die schon da ist. Und ich neige nach umfangreichem Studium der Texte zu der Ansicht, das diese Wirklichkeit so banal und beinahe selbstverständlich ist, wie das von vielen Lehrern des Zen auch ausgedrückt wird. Wir sehen diese Wirklichkeit nicht, weil sie durch Vorstellungen, Theorien, Vermeidungsstrategien, Dogmatiken und Wunschvorstellungen verdeckt ist. Und weil sie verdeckt bleibt, ist ein Leben in Freiheit nicht möglich. In meiner Anschauung heute ist das einzige und wirklich erstrebenswerte Ziel das Ziel, das nicht durch Willenskraft erreicht, nicht erlernt und nicht erstritten werden kann. Es kann nur durch Erfahrung erreicht werden, und Erfahrung, wir sehen das an der Erfahrung des Gehen-Lernens eines Kindes, erfordert Mut, Hartnäckigkeit und Einsatz. Aufstehen, gehen, hinfallen, aufstehen, gehen, hinfallen, … solange, bis das Gehen wirkmächtig da ist. Und wir wissen, das Lernen dieser Art im Leben nie aufhören kann, denn Alter und Krankheit, Ungeschick und eine Verkettung ungünstiger Umstände können niemals ganz ausgeschlossen werden.

Erfahrung, Einsicht und Loslösung

Wir setzten den Gehalt von Erfahrung meist sehr hoch an. Erfahrungen sind im Volksmund immer außergewöhnliche Ereignisse, wo sich seltene, einzigartige oder außergewöhnliche Dinge ereignen? Das ist eine sehr kurze, enge und begrenzt gefasste Ansicht. Sind Erfahrungen nicht auch der erfrischende Geschmack einer Banane, die direkt aus dem Kühlschrank kommend genossen wurde. Oder der banale Geschmack sauberen Wassers nach einer körperlichen Anstrengung. Sind Erfahrungen nicht auch das Lächeln eines Kassierers im Supermarkt, die Aufmerksamkeit eines Hotelangestellten oder der verständnisvolle Blick eines Vorgesetzten, der einen Fehler bemerkt und kundtut, das er das als menschlich empfindet? Als Erfahrungen gelten müssen doch jegliche Ergebnisse und Auswirkung einer beliebigen Handlung oder Begebenheit. Wenn ich 20 mal eine Frucht gegessen habe und ich jedes mal bemerke, das sie mir nicht schmeckt, obwohl sie als außerordentlich gesund gilt und vielleicht sogar sehr begehrt und teuer ist, dann ist das doch bestimmt, so denken wir, eine Erfahrung, der ich immer Rechnung tragen sollte? Und trotzdem kann das sogar schon beim 21. Versuch ganz anders sich darstellen. Erfahrungen sind Momentaufnahmen, gültig nur am Tage „Jetzt“, und nicht mehr. Die Erfahrung will uns sagen, das hier und jetzt eine Chance oder eine Gefahr lauern könnte, jedoch nicht muss. Sie zu ignorieren ist daher genauso falsch wie ihr blind zu vertrauen.

Ähnlich, aber doch in einem sehr anderem Kontext stellt sich eine Einsicht dar. In meiner Vorstellung ist Einsicht dann gegeben, wenn es für einem Moment gelingt, hinter die große Mauer des Bewusstseins zu schauen in eine Welt, die für die große Allgemeinheit der Menschen als unerreichbar gilt. Sie ist aber trotzdem nur eine Momentaufnahme und bleibt nicht für alle Zeiten gültig. Sie ist von der Erfahrung darin unterschieden, das sie für den Schauenden die Möglichkeit schafft, das Leben für kurze Zeit vollkommen anders zu erfahren. Die Einsicht ist somit tiefer gehend als die Erfahrung, viel tiefer. Sie schafft Vertrauen in das gelebte Leben, ohne dieses festzulegen. Der beständige Zugang zur Welt hinter der Mauer, ein Leben in unverfälschter Wahrheit und Wirklichkeit kann Freiheit genannt werden. Sie ist, und da sind sich nahezu alle Lehrer einig, schwer und äußerst selten zu erlangen und kann nicht angestrebt werden. Sie ist, oder sie ist nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich auf die Frage, ob ich diese Freiheit erreichen möchte, jemals mit „ja“ antworten sollte/könnte. Ich stelle mir das sehr schwer vor, so zu leben. Aber ich möchte hier und da schon mal gerne einen kurzen Blick riskieren. Sollte er sich anbieten, werde ich bestimmt nicht „nein!“ sagen. Aber ich werde auch nicht traurig sein, sollte mir das versagt bleiben.

Geht man weiter zu dem Begriff des Loslassens, der Loslösung, der Befreiung oder wie auch immer die genaue Fassung lautet, wird die direkte Frage auftauchen, von was denn hier eigentlich eine Lösung stattfinden soll. Sobald ich dann die vielen Beispiele erwähne, von der ein Loslösen stattfinden kann, habe ich den Weg verloren und befinde mich im tiefsten Wald ohne Orientierung wieder. Ich habe mich verlaufen. Das Problem einer Bindung sind doch nicht die Knoten, die ich kenne, sondern die vielen, die ich übersehen habe, von denen ich nichts weiß oder die ich vielleicht sogar als selbstverständlich betrachte. In einer spirituellen Praxis geht es um die Letztgenannten. Sie sind es doch, die unbarmherzig festhalten. Und die kann man eben nicht durch Vorstellungen und Erfahrungen lösen. Hier wirken keine Argumente, keine Überzeugung und noch so gut gemeinte Ratschläge. Sie sind selbst nach den Theorien der Hirnforschung wie offene Schleifen im Bewusstsein, die blitzartig sich schließen und wirken, wenn ein passendes Bindeglied sich einfügt. Ein Wort, ein Bild oder eine einzige Wahrnehmung, und die ganze verschlungene Wirkkette setzt sich nahezu automatisch in Bewegung. Diese offenen Schleifen kann man nicht aufdecken durch Nachdenken oder systematische Suche. Sie lassen sich nur auffinden durch das Schließen der Kette. Und dieses Schließen sollte dann stattfinden, wenn sich der Übende in einem Schutzraum befindet, wenn die Umgebung und der Handlungsspielraum massiv eingeschränkt sind und genügend Raum zur Verfügung steht. Und es sollte sichergestellt sein, das die Wirkkette keinen Schaden anrichten kann. Dieser Schutzraum ist die Meditation, das Verweilen im großen Raum der Stille. Hier kann sich in Gedanken jede Schleife schließen, hier kann der Übende schauen, welche Reaktionen einmal geschlossene Ketten auszulösen vermögen und somit lernen, sie zu fördern oder ihnen gegebenenfalls zu begegnen. Hier kann leben, was im Alltäglichen verborgen ist (s.u.).

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