Der nächste Abschnitt aus der Definition:
Weitgehende Übereinstimmung herrscht in der Ansicht, dass Weisheit von geistiger Beweglichkeit und Unabhängigkeit zeugt: Sie befähigt ihren Träger, systematisch Dinge zu denken („eine weise Erkenntnis“, „ein weiser Entschluss“, „ein weises Urteil“), zu sagen („ein weises Wort“, „ein weiser Rat“) oder zu tun („ein weises Verhalten“), die sich in der gegebenen Situation als nachhaltig sinnvoll erweisen. Dies geschieht häufig unter Vermeidung störender Einflüsse, wie beispielsweise dem eigenen Gefühlszustand oder gesellschaftlichem Gruppenzwang.
Mir persönlich erscheint Weisheit dann als gegeben, wenn deren Aussagen, Handlungen und Anforderungen von unabhängiger Selbstständigkeit zeugen, dieses Konzept-frei aus einer intuitiven Betrachtung heraus geschieht und die Wahrscheinlichkeit groß ist, richtig zu liegen. Daher werden auch nur dann Menschen „weise“ genannt, wenn sie bereits zahlreiche Beispiele ihrer Weisheit geliefert haben. So wird Weisheit oft auch in der Geschichte nur älteren Menschen mit einem großen Erfahrungsschatz zugeschrieben. Wo ich persönlich keinerlei Weisheit auffinden kann ist in Motiven wie Ideologie, Wertvorstellung und Zugehörigkeit gut zusammengefasst, da hier jeweils eine Vorauswahl getroffen wurde und es danach unmöglich ist, auf ein konkrete Ereignis Bezug zu nehmen. Eine Vorauswahl muss immer Konzept-verhaftet und kann niemals frei und offen sein. Sie beruft sich auf Erfahrungen der Vergangenheit, die jetzt im Moment bereits vollkommen falsch sein könnten. Auch 99 Versuche mit positivem Ergebnis kann mit Versuch 100 das Versagen folgen. Jeder, der sich jemals mit Kuchenbacken beschäftigt hat, wird das bestätigen können. Weise ist daher, wer das berücksichtigen kann ohne tatenlos zu sein.
Nun werden in Bezug zu Weisheit oftmals herausragende Persönlichkeiten der Weltgeschichte genannt und ihr Lebenswerk in ausführlichen Biographien dargestellt. Ich möchte dem allerdings hier nichts hinzufügen. Weisheitsbücher gibt es mehr als genug. Allerdings finden sich dort auch viele Vorschläge und gut gemeinte Ratschläge, die praktisch in der heutigen Zeit (2024) gar nicht mehr umsetzbar wären. Nehmen sie das Tao Te King. Wäre dieses Buch heute ein Ratgeber für Menschen in Politik und Wirtschaft? Bescheiden-Sein, nicht ins Rampenlicht gehen und aus dem Verborgenen heraus die Menschen führen, vielleicht sogar so, das diese die Einwirkungen der mächtigen Anführer gar nicht wahrnehmen könnten? Würde das heute funktionieren? Was uns die Bücher der Weisheit 1 lehren, lässt sich im Grunde genommen auf wenige, allgemein zu verstehende Anweisungen zusammen-denken. Beginnen wir mit der häufigsten Aussage, das nämlich der Mächtige seine Macht nicht zu seinem eigenen persönlichen Wohl ausnutzen dürfe. Das kann und muss heute doch wohl mit der Forderung verstanden werden, Korruption gleich welcher Art unter keinen Umständen zuzulassen. Dann werden Bescheidenheit, Demut 2 und Großzügigkeit in der Regel als „weise“ angesehen. Weiterhin sagen alle Weisheitsbücher, das, da Menschen heute allgemein betrachtet immer in Gemeinschaften leben, die Regeln der gelebten Gemeinschaft anzuerkennen seinen, auch wenn diese oftmals als ungerecht empfunden werden könnten. Der Weise kämpft nicht gegen die Regeln der Gesellschaft, der er angehört, da diese sich meist als fern der Weisheit darstellen werden und es so etwas wie Gerechtigkeit als Regelwerk ausgegossen gar nicht geben kann. Es gibt nur Regeln, die eine Gemeinschaft gründen. Soweit die allgemein zugängigen Motive, die Weisheit implizieren. Alle anderen Aussagen, die in Weisheitstexten zu finden sind, beziehen sich auf religiöse, weltanschauliche, philosophische und/oder traditionelle Kulturinhalte und sind folglich so unterschiedlich wie die Kulturen, denen sie angehören. Auch hier sagen die Weisheitslehren überwiegend, das jeder Weise die jeweilige Tradition zu beachten habe und es unklug sei, offen dagegen anzugehen. Daher entstanden die Weisheitslehren ja meist auch in einer Einsiedelei und in Klöstern, die sich in beiden Fällen nach außen abzuschirmen verstanden. Weise aller Zeiten der Vergangenheit suchten auch nicht nach Anhängern, bildeten keine lautstark agierenden Schulen und/oder produzierten sich nicht „selbstanpreisend“ in der Öffentlichkeit. Sie wandelten durch ihre Welt und wurden von denen gefunden, die sich später als Anhänger auswiesen. Von den Mächtigen aller Zeiten wurden die Anhänger und Träger der Weisheit oft als Träumer und Sonderlinge dargestellt 3 und/oder sogar mit den Mitteln der Macht und des Rechts verfolgt 4. Nicht viel anders ging es vielen großen Lehrern der Schulen. 5.
Wenn alle Aussagen des Artikels oben zusammengefasst in wenige Motive geordnet würden, wäre das Ergebnis ernüchternd. Die wenigsten Weisheitslehrer wollten zum Beispiel eine Religion gründen, nur wenige von ihnen wurden von dem Mächtigen ihrer Epoche gehört und/oder geachtet, und nur wenigen gelang ein gelungenes Leben. Das sich die Lehren erst später entfaltet haben, scheint eher die Regel als die Ausnahme gewesen zu sein. Oftmals wurden diese Lehren von Anhängern niedergelegt, die den Gründer niemals erlebt hatten, und so sehen die Schriften dann auch aus. Aus der Suche nach einer Möglichkeit, das Leid der Menschen zu mindern (Buddha) wurden Staatsreligionen, die Verwalter des Christentums (Jesus) schlachteten sich in Jahrhunderten durch die Völker der Welt und mit den Übersetzungen aus der Chinesischen Weisheit wurden Werke in die Welt gesetzt, die heute nur noch schwer verstanden werden können (Laotse).
Warum schreibe ich nun über ein solch schwierig zu fassendes Thema? Es ist der Zeitgeist, der mir diese Beschreibung in die Tastatur zwingt. Wir leben heute in einer Welt, in der alles andere als Weisheit regiert. Tagtäglich werden wir mit Krisen konfrontiert, die nach der obigen Beschreibung durch die Missachtung und durch das Missverständnis von Weisheit zustande kommen. Ich habe oftmals ein Gefühl von Verzweiflung, wenn ich mit dem Studium der täglichen Nachrichten abgeschlossen habe. Die Gründe dafür sind vielfältig. So ist es mit der Forderung nach Toleranz nicht mehr weit her. Wenn Menschen anderen Menschen nicht mehr zuhören können, die eine andere Meinung als sie selbst vertreten, wenn sie deren Meinungsäußerung dann sogar noch zu verhindern suchen, wenn sie „schubsen“, verbieten, behindern und zu verleumden versuchen, wenn ihnen etwas nicht in den Kram passt und wenn das dann noch von (Staats-)offizieller Seite getan wird, sind wir als Gesellschaft vom Befolgen von Weisheit weit entfernt. Wir wollen dann ja auch noch eine Demokratie sein. Können wir das, wenn wir als Volk, das ja den Souverän darstellen soll, gar nicht (mehr ?) gefragt werden und untätig zusehen müssen, wie der Abgrund „Endzeit“ immer näher rückt? Können wir als Volk noch Einfluss nehmen, wenn kleine und sehr laut sich artikulierende Gruppen soviel Lärm machen, das die große Mehrheit gar nicht mehr gehört werden kann. Können wir noch frei sein, wenn es vom Volk gewählten Menschen in Amt und Würden egal ist, was ihre Wähler denken und wünschen, und Korruption, Selbstüberschätzung und mangelnde Demut die aussagekräftigsten Eigenschaften der Mächtigen darstellen? Sind wir überhaupt noch ein Volk, „wenn wir uns in einer dienenden Rolle“ einem anderen Volk gegenüber sehen und unsere wirkliche Stimme in diesem Zusammenhang immer mehr verstummt? Sind wir noch ein weises Volk, wenn wir als David einem Goliath gegenüber wie Herkules auftreten und Krieg, Tod und Verderben dulden, fördern, unterstützen und bewerben, obwohl uns schon längst die Schleuder abhanden gekommen ist, die David den unerwarteten Sieg brachte? Wir spielen zur Zeit „All-In“ und werden, wenn der Bluff schief geht, das Kasino als Bettler verlassen oder sogar dem Tode nahe sein. Erinnern Sie sich noch? Wir Deutschen waren mal ganz oben, wurden geachtet und gemocht, weltweit, und wir hatten viele Jahre lang keine Feinde. Wir galten als das Volk der Dichter und Denker. Wir trieben Handel mit aller Welt, unsere Waren wurden begehrt und unsere Äußerungen zu politischen Fragen wurden aufgenommen und erwogen. Und heute? Das wir in der Welt keinen Einfluss mehr nehmen können stört mich nicht. Das ich aber morgen schon tot sein könnte, weil uns heute die Nicht-Weisheit regiert, das stört mich sehr wohl. Wie sieht es bei Ihnen, dem Leser dieser Zeilen, aus? Wollen Sie wirklich mit der Mehrheit zusammen weiterhin inaktiv bleiben und Ihr Schicksal von Anderen bestimmen lassen? Weise wäre das, betrachten wir unser Freunde und Feinde in der Welt genauer und befolgten die Traditionen der Weisheit, sicherlich schon. Aber ist es auch vernünftig, weiterhin passiv zu sein? Bitte bedenken Sie: Es geht heute nicht mehr um die Zukunft weniger Einzelner wie in früherer Zeit, nicht mehr um das Bestehen einer Schule oder Lehre, nicht mehr um Detailfragen, nein, es geht um das Hoffen auf ein Überleben unserer Art, ja mehr noch, um das Hoffen auf ein Überleben des Lebens auf diesem Planeten. Ja, es ist weise, öffentlich zu schweigen, sich die Augen fest verschlossen in die Klause zurückzuziehen, aber es ist auch vernünftig, zu hoffen und dafür zumindest im privaten Umfeld wirksam zu sein. Es ist heute mehr denn je geboten, das Leben selbst argumentativ und handelnd ganz nach oben zu stellen auf der persönlichen Agenda. Wir haben im Gegensatz zu früheren Zeiten technisch die Möglichkeit geschaffen, eine endgültige Entscheidung über die Überlebensfähigkeit des Menschen zu setzen. Das gab es vor unserer Zeit noch nie, und daher wurde darüber selten bis gar nicht nachgedacht. Es braucht nur noch eine einzige Entscheidung einer Regierung und deren Umsetzung, um unumkehrbar ein Ende zu setzen. Daher müssen wir heute vorausdenken, und nicht wie bisher üblich nur zurückblicken. Auch das Erwachen ist ein Zurückerinnern, ist längst verborgene Bindungen zu erneuern, ist ein Zurückholen des Vergessenen. Was wir brauchen aber ist ein sichere Basis für die Zukunft. Wenn das Hoffen auf ein gesichertes Weiterleben-können erlöschen sollte, erübrigt sich für alle Denkenden sowohl Weisheit, Hoffnung als auch Vernunft. Es gibt heute zum ersten Mal in der Geschichte dieses Planeten keine zweite Chance, kein Wieder-Gut-Machen. Wenn es misslingt, beginnt nur noch der Endkampf um das nackte Überleben, und der hat mit Weisheit nicht mehr viel zu tun.
- IGing, TaoTeKing, Mahabharata, Edda, Shobogenzu, Mysterienschulen, Taoismus, Buddhismus, Hinduismus, Schamanismus usw. ↩
- Anspruchslosigkeit oder das Notwendige hinzunehmen bereit sein…(HpS) ↩
- Buddha, Zen-Meister, Äbte ↩
- Laotse gab auf und flüchtete in die Einsamkeit, Sokrates fiel dem Schierlingsbecher zum Opfer, Jesus wurde gekreuzigt. ↩
- Pythagoras zum Beispiel zog sich den Zorn der Bevölkerung seiner Stadt zu und musste fliehen. ↩